Exekutive Dysfunktionen als das Kernproblem der Behinderung

Exekutive Dysfunktionen als das Kernproblem der Behinderung

Der Begriff der „Exekutivfunktion“ ist ein aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum entliehener Terminus, welcher in der Regel mit Steuerungs- oder Leitungsfunktionen übersetzt wird.

Psychologisch betrachtet spielen Steuerungsfunktionen eine zentrale Rolle im Hinblick auf die gezielte Steuerung von Handlungen in gängigen Theorien zum Bewusstsein und zur Aufmerksamkeit. Weiter kommt dem Begriff eine Bedeutung zu bei der Hemmung von Reflexen sowie automatisierten Handlungen und Unterbrechungen von instinkthaften Handlungen und ist im Sinne des Konzeptes der Steuerungsfähigkeit in der kognitiven Psychologie zu finden. Neuropsychologisch betrachtet sind exekutive Funktionen all jene Funktionen, die an der Zielerreichung, der flexiblen Koordination und Steuerung mehrerer Teilprozesse sowie an der Zielentwicklung, ohne zuvor festgelegtes Ziel, beteiligt sind. Exekutive Funktionen sind also immer dann relevant, wenn es darum geht, von routinierten Handlungsabläufen abzuweichen. Exekutive Funktion beschreiben also all jene mentalen Fähigkeiten, die menschliches Verhalten und Denken steuern sowie den Umgang mit den eigenen Gefühlen kontrollieren. Gut ausgebildete exekutive Funktionen ermöglichen es, planvoll, zielgerichtet und situationsangemessen zu reagieren und sind von zentraler Bedeutung für die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern, in dem sie die lebenslange Grundlage für Sozial- und Lernleistungen bilden.

Generell setzen sich die exekutiven Funktionen aus drei Teilleistungen des menschlichen Gehirns zusammen, zwischen denen ein enges Zwischenspiel herrscht:

Das Arbeitsgedächtnis, die Inhibition sowie die kognitive Flexibilität. Das Arbeitsgedächtnis ist bildlich mit einer Art Notizzettel zu vergleichen, auf dem im Kopf Informationen festgehalten, bearbeitet, verändert und zusammengetragen werden können. Als inneres Stoppschild fungiert in dieser Triade die Inhibition. Sie ermöglicht es als hemmender Teil, die Impulse zu kontrollieren, unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken und langfristige Ziele hinter eine kurzfristige Bedürfnisbefriedigung zurück zu stellen. Den inneren Weichensteller bildet die kognitive Flexibilität als Teil des Gehirns, der dafür zuständig ist, sich auf neue Situationen oder Aufgaben einstellen und das eigene Verhalten entsprechend darauf ausrichten zu können. Die kognitive Flexibilität befähigt den Menschen, Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und stellt so sinnbildlich die inneren Weichen.

Kinder und Jugendliche, die intrauterin durch Alkohol geschädigt wurden, weisen irreversible funktionelle Schädigungen des Zentralen Nervensystems auf, die besonders häufig mit mehr oder weniger stark ausgeprägten Störungen der exekutiven Funktionen einhergehen, ohne dass bisher genauer festgestellt werden konnte, welche Teilfunktionen charakteristischerweise beeinträchtigt sind. In diesem Beitrag werden die Begriffe Störungen der exekutiven Funktionen/Exekutivfunktionen und exekutive Dysfunktionen synonym gebraucht.  Da nicht jeder von FASD Betroffene die gleichen Defizite in den gleichen Bereichen mit gleicher Ausprägung aufweist, ist es empfehlenswert immer eine ausführliche neuropsychologische Diagnostik durchzuführen, um die individuellen Schwächen und Stärken als Grundlage für Hilfe- und Erziehungsplanung zu identifizieren.

Hier liegt der Schwerpunkt darauf zu schauen, welche exekutiven Funktionen im jeweiligen Einzelfall (besonders) betroffen sind und damit (lebenslang) kompensiert werden müssen. Eine Schädigung durch Alkohol, die zu einer Fetalen Alkoholspektrumstörung führt, ist nicht linear im Sinne von „wenig geschädigt“ zu „stark geschädigt“ zu verstehen, sondern hat individuelle Einschränkungen in ganz unterschiedlichen Störungsbereichen zur Folge, die von Individuum zu Individuum her variieren. Die folgende Abbildung soll dies visuell verdeutlichen:

Als exekutive Funktionen werden also, wie eingangs dargestellt, all jene höhere kognitive Fähigkeiten bezeichnet, die in Wechselwirkung zu den kognitiven Basisfunktionen wie Gedächtnis, Wahrnehmung, Sensorik, sprachlichen Fähigkeiten und dem Arbeitsgedächtnis stehen. Zum einen sind die exekutiven Funktionen abhängig von den Basisfunktionen, zum anderen bedingen sie diese aber auch gleichzeitig. Die exekutiven Funktionen spielen zusammengefasst eine zentrale Rolle hinsichtlich der selbständigen Lebensführung des Menschen und haben, sofern diese gestört sind, einen großen Einfluss auf die Selbständigkeit im Alltag.

Typischerweise sind bei Kindern oder Jugendlichen mit pränataler Alkoholexposition vor allem jene Hirnfunktionen verändert, die für die Selbstwahrnehmung, die Orientierung, die Selbstregulation, das Abstraktionsvermögen, die Handlungsplanung, das Regelverständnis, das Lernen, die Sprachentwicklung, die soziale Interaktion sowie die räumliche und zeitliche Wahrnehmung zuständig sind. Diese exekutiven Dysfunktionen werden als Kernproblem der FASD diagnostiziert.

Literatur

Bauer, Daniela, Evers, Wiebke, Otto, Melanie & Walk, Laura (2016) Förderung exekutiver Funktionen durch Raumgestaltung. Wissenschaft. Praxis. Methoden. Calbe: Wehrfritz GmbH

Kubesch, Sabine (2020) Exekutive Funktionen und Selbstregulation. Neurowissenschaftliche Grundlagen und Transfer in die pädagogische Praxis. Bern: Hogrefe Verlag

Liesegang, Jörg. 2020. Exekutivfunktionen aus systemischer Sicht…Träumen erlaubt. IN: Michalowski, Gisela, Lepke, Karin & FASD Deutschland e.V. (Hrsg.) 2020. FASD – Träumen erlaubt?! 21. FASD-Fachtagung in Dortmund, 27.-28.09.2019. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag GmbH

Müller, Sandra Verena (2013) Störungen der Exekutivfunktionen. Göttingen: Hogrefe Verlag GmbH

Spohr, Hans-Ludwig (2016) Das fetale Alkoholsyndrom im Kindes- und Erwachsenenalter. Berlin, Boston: Walter de Gruyter GmbH

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