Wie Fachkräfte dazu beitragen können, die Stärken zu stärken
Endlich! Nach drei Tagen auf See, fester Boden. „Das ist wahrer Luxus!” Ich ging in einen norwegischen Zoo. Und dort sah ich einen Pinguin auf seinem Felsen stehen. Ich hatte Mitleid: „Musst du auch Smoking tragen? Wo ist eigentlich deine Taille? Und vor allem: hat Gott bei dir die Knie vergessen?” Mein Urteil stand fest: Fehlkonstruktion. Dann sah ich noch einmal durch eine Glasscheibe in das Schwimmbecken der Pinguine. Und da sprang „mein“ Pinguin ins Wasser, schwamm dicht vor mein Gesicht. Wer je Pinguine unter Wasser gesehen hat, dem fällt nix mehr ein. Er war in seinem Element! Ein Pinguin ist zehnmal windschnittiger als ein Porsche! Mit einem Liter Sprit käme der umgerechnet über 2500 km weit! Sie sind hervorragende Schwimmer, Jäger, Wasser-Tänzer! Und ich dachte: „Fehlkonstruktion!”
https://www.hirschhausen.com/glueck/die-pinguingeschichte.php
Diese Begegnung hat mich zwei Dinge gelehrt. Erstens: wie schnell ich oft urteile, und wie ich damit komplett danebenliegen kann. Und zweitens: wie wichtig das Umfeld ist, ob das, was man gut kann, überhaupt zum Tragen kommt.
In meiner Überzeugung hat die Entfaltung von Potentialen und Stärken immer etwas damit zu tun, wie gut der jeweilige Mensch in Resonanz zu der umgebenden Umwelt steht. Erst das Erkennen von spezifischen Bedürfnissen, das Schaffen einer förderlichen Umgebung sowie das umgeben sein von wohlwollenden Beziehungspartnern ermöglicht es uns, die eigenen Stärken zu entfalten. Das gilt für Kinder und Jugendliche mit FASD gleichermaßen wie für neurotypische Menschen.
Der Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi, der als Begründer der Flow-Theorie gilt, sagt in seinem Verständnis von „Glück“:
„Funktionslust stellt sich ein, wenn wir Anforderungen ausgesetzt sind, die unsere volle Aufmerksamkeit erfordern und im Rahmen unserer Fähigkeiten erreichbar sind“
https://wpgs.de/fachtexte/motivation/flow-erleben-theorie-csikszentmihalyi/
Sprich: Anforderungen, die nicht zu hoch sind und uns mit empfundenem Scheitern und frustriert zurücklassen, aber auch nicht zu niedrig gesteckt sind. Stärken offenbaren sich gemäß dieser Theorie wie auch in Hirschhausens Pinguin-Geschichte nur in einem passenden Umfeld. Der Kabarettist bringt es mit seiner Geschichte auf den Punkt:
„Auch sieben Jahre Psychotherapie machen aus einem Pinguin keine Giraffe. Ganz gleich, wie sehr wir uns anstrengen, wir können nicht anders sein, als wir sind“ [1]
vgl. https://www.hirschhausen.com/glueck/die-pinguingeschichte.php
Die kabarettistisch übersteigerte Akzeptanz biologisch bedingter Defizite und Unterschiede bei FASD-Betroffenen erscheint wichtig, um sowohl die Fachkräfte als auch die Betroffenen selbst vor frustralen, weil nicht zu erreichenden, Zielsetzungen und Anforderungsrahmen zu schützen. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei FASD um eine Spektrumstörung handelt, die Symptome und Einschränkungen also individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, ist es wichtig grundsätzlich individuell, experimentelles Vorgehen bei allen konzeptionellen Vorgaben zu berücksichtigen.
Die Grundhaltung der lösungsorientierten Kurzzeittherapie nach Steve de Shazer bietet hier wertvolle Aspekte an, die auch bezüglich der praktischen Arbeit in Wohngruppen mit FASD-Betroffenen Anwendung finden sollten. De Shazer formuliert es wie folgt
„Finde heraus, was gut funktioniert und passt – und tu mehr davon!“ sowie „Wenn etwas trotz vieler Anstrengungen nicht gut genug funktioniert und passt – dann höre damit auf und versuche etwas Anderes!“
vgl. https://downloads.eo-bamberg.de/5/411/1/98020651988338573362.pdf
Da sich die Betroffenen mit FASD diese „Flow-Umgebung“ aufgrund ihrer Hirnschädigung nicht selbst erzeugen respektive gestalten können, sind sie auf ein externes Gehirn angewiesen, welches die Anforderungen für sie steuert und das Umfeld behinderungsspezifisch modifiziert.
[1] „(…) und das ist auch gut so, denn andere gibt es schon genug“. Das ganze Video ist auch bei youtube zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=sY539oAsTb0