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Fetale Alkoholspektrumstörungen in (stationärer) Jugendhilfe

Welche Herausforderungen ergeben sich für die Betreuung und wie können Fachkräfte zum Screening beitragen?

„FASD ist eine der kompliziertesten und größten interdisziplinären Herausforderungen“

(Hoff-Emden, 2013)

Für die Betreuung und in letzter Konsequenz daraus resultierend die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen mit FASD ist es immens wichtig, dass sie auf ein gut informiertes Helfersystem treffen, das in der Lage ist, die richtigen Hilfen und Angebote bereit zu stellen und angemessen mit der hirnorganischen Beeinträchtigung als Grund hinter dem herausfordernden Verhalten umzugehen. Passend hierzu stellt auch die neurobehaviorale Perspektive heraus, dass Entwicklungsspielräume durch passende Anforderungen entstehen.

Dies bedeutet nicht, dass ein kompletter Barriereabbau und eine vollständige Reduktion der Ansprüche erfolgen sollte, da dies gleichzeitig auch das Verhindern jedes Wachstums bedeuten würde. Wichtiger als der dogmatische Umgang mit Anspruchs- und Barrierereduktion ist die individuelle Anpassung der Anforderungen zur tatsächlichen Einschränkung. Jugendhilfe kommt hier also die wichtige Aufgabe zu, für die betreuten Kinder und Jugendliche ein neuropsychologisches Profil als Grundlage der weiteren Hilfe- und Erziehungsplanung vorzunehmen.

Problematisch scheint hinsichtlich der geeigneten Konzeption von Settings und daraus resultierend der geeigneten Betreuung überhaupt erst einmal die Möglichkeit zur Diagnosestellung zu sein, da es einer speziellen Ausbildung bedarf, um die Diagnose FASD stellen zu können. Nur ein geringer Teil von Ärzt*innen oder Psycholog*innen verfügt über diese Zusatzqualifikation beziehungsweise überhaupt die Kenntnis über dieses Behinderungsbild, um bei einem Verdacht an entsprechend spezialisierte Stellen weiter verweisen zu können. Es fehlt auch heute noch an wohnortnahen Diagnosemöglichkeiten sowie an Screening-Programmen, um den Verdacht überhaupt erst auf das Vorliegen einer Fetalen Alkoholspektrumstörung zu lenken.

Bis dahin sind die betroffenen Kinder oder Jugendliche in Settings untergebracht oder betreut, die sie fehlbetreuen und dauerhaft überfordern und somit die Herausbildung sekundärer psychischer Störungen begünstigen beziehungsweise sogar provozieren. Einer amerikanischen Langzeitstudie von Streissguth (2004) zu Folge sind vor allem eine frühe Diagnose, verlässliche und kontinuierliche Betreuung sowie ein individueller Unterstützungsrahmen protektive Faktoren, wenn es darum geht, sekundäre Störungen wie etwa Schulabbrüche, Delinquenz, Sucht oder Schwierigkeiten im Erwerbsleben zu vermeiden. Dabei gibt es durchaus in der Literatur einige „Soft Signs“ zu finden, die auf FASD schließen lassen. Diese Literaturhinweise wollen aber sorgsam recherchiert sein, keineswegs offenbaren sie sich dem interessiert Suchenden zu offenkundig. Hätten die Betreuenden Kenntnis des Behinderungsbildes im Allgemeinen und diesen dazugehörigen Verhaltenshinweisen im Speziellen, so könnten sie maßgeblich zur Erlangung der protektiven Faktoren beitragen, indem sie eine Diagnose anregen und davon ausgehend die richtigen Konzepte bereitstellen, um die Betroffenen adäquat und behinderungsspezifisch zu betreuen.

Dr. Feldmann aus Walstedde, einer der führenden Psychologen in der Diagnostik von FASD, etwa hat den sogenannten FASQ entwickelt, einen Fragebogen mit dem man die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Fetalen Alkoholspektrumstörung vor der eigentlichen Diagnostik testen kann [1]. Eine Etablierung solcher Screening-Verfahren im Rahmen des Aufnahmeverfahrens in stationärer Jugendhilfe könnte die Dunkelziffer der Kinder und Jugendlichen mit FASD deutlich minimieren und die Chance erhöhen, dass diese Betroffenen die Hilfen bekommen, die sie hirnorganisch benötigen. Solange diese alleine zahlenmäßig so präsente Behinderung in Jugendhilfe allerdings noch so unbekannt ist, droht weiter die Gefahr, dass die betroffenen Kinder und Jugendliche die Hilfesysteme sprengen.

Um dies im Sinne der Betroffenen zu verbessern bedarf es einer umfassenden Aufklärungskampagne, einer flächendeckenden Fort- und Weiterbildung von Sozialpädaog*innen und allen Bezugsdisziplinen in Bezug auf FASD-Diagnostik, Fallmanagment und Betreuung, der Inklusion von FASD-Betroffenen Kindern und Jugendlichen durch behinderungsspezifische Haltungsänderung der Betreuenden sowie die Integration des Lerninhaltes FASD in universitäre und außerschulische Bildungskontexte. Angehende Fachkräfte sollten dazu befähigt werden, die Behinderung zu erkennen, die benötigten hirnorganischen Grundlagen zu kennen und ihre pädagogischen Interventionen, die ganz anders aussehen als bei neurotypischen Kindern, auf die von FASD betroffenen Kinder und Jugendliche auszurichten.

Der Blick in andere Länder wie zum Beispiel Kanada oder die USA lohnt, wenn es um Anregungen für die hiesige sozialpädagogische Praxis geht. Demgegenüber steht die schwindend geringe Anzahl an Fortbildungsangeboten für pädagogische Fachkräfte in Bezug auf FASD in Deutschland, die kaum vorhandene Studienlage sowie das Fehlen von Literatur für den Jugendhilfe-Kontext. Das heißt ganz praktisch gesprochen, dass es zwar durchaus möglich wäre, sich über die Fetalen Alkoholspektrumstörungen zu informieren, was dies nun aber für die konzeptionelle Ausrichtung von stationärer Jugendhilfe heißt, wie die Störung sich im stationären Alltag darstellt und wie gelingende Interventionen in diesem Setting aussehen könnten, ist nicht auffindbar.

Zwar gibt es Initiativen engagierter Pflegefamilien, die Einblicke in einen Alltag mit von FASD betroffenen Kindern und Jugendlichen geben, die Schilderungen von Fallbeispielen aus (stationärer) Jugendhilfe oder best practise Beispiele fehlen jedoch. Angesicht der hohen Betroffenheitszahlen in Fremdplatzierungen ist mir dies auch abschließend unverständlich und ein großes Manko, das zu weiterer inhaltlicher Beschäftigung anregt.

Literatur

Feldman, Reinhold, Kampe, Martina & Graf, Erwin (2020) Kindern mit FASD ein Zuhause geben. Ein Ratgeber. München: Ernst Reinhard Verlag GmbH

Hoff-Emden, Heike (2013): Fetale Alkoholspektrumstörung. Eine interdisziplinäre sozialmedizinische Herausforderung. In: Ärzteblatt Sachsen 09/2013

Streissguth AP, Barr HM, Kogan J, Bookstein FL, Sampson PD & K O` Malley (2004) Risk Factors for Adverse Life Outcomes in Fetal Alcohol Syndrome and Fetal Alcohol Effects, Seattle: Universitiy of Washington.


[1] Zu finden im Anhang von: Feldmann, Kampe & Graf, 2020.

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